Marianna

Sie saß an einem plätschernden Bach, hockend, mit einer Hand im sicherlich kühlen Nass und murmelte vor sich hin. Was sie da wohl redet? fragte er sich. Sie ließ ihre Hand vor und zurück gleiten und ihre Worte wurden ein wenig lauter, doch noch immer unverständlich für ihn. Er sah ihre langen wellenden Haare, brünett, und ihm war, als ob diese kurz davor waren, sich in die Lüfte zu hieven, gen Himmel – vielleicht betete sie ja dafür, dass genau dies passierte, dachte er. Ihm gefiel ihr Profil, die Nase einer griechischen Göttin, der volllippige Mund, die von der frischen Luft rosigen Wangen, die langen Wimpern, die Ohren, die halb verdeckt von den Haaren waren und an denen lustige Ohrringe, wahrscheinlich kleine Schmetterlinge, hingen. Wo schaute sie nur hin, fragte er sich. Und welche Farbe haben ihre Augen? Er kam ihr näher, doch sie bemerkte ihn nicht, so vertieft war sie in ihr Tun. Jetzt müsste ich ein Foto von ihr knipsen, ihre Seele würde sich darauf finden. Oder was auch immer dasjenige war, dass die Tiefe eines Menschen symbolisierte. Er blieb nun stehen und betrachtete sie noch eingehender, ein Wunder, dass sie ihn noch immer nicht bemerkte. Die Entfernung zwischen ihnen betrug nur wenige Meter, längst für sie spürbar, doch sie war fort, fort von diesem Ort, irgendwo in der Ferne, oder sehr nah, er wusste es nicht. Dies und alles andere, das mit Menschen zu tun hatte. Der junge Mann hatte die merkwürdige Eigenheit, keine Menschenkenntnis zu besitzen. Selbstverständlich vermutete er so allerlei in den Gedanken seiner Gegenüber, doch meist waren ihm die Reaktionen ein wenig fremd. Zumindest redete er sich das ein. Der Bach ist für sie das Meer, sie schwimmt gerade darin, mit ihren Freunden den Delphinen, mit diesen majestätischen intelligenten Tieren, die stets auf die nächste hohe Welle springen, um weiter auf ihrem Weg durch die Ozeane zu gelangen. So dachte er sich das. Vielleicht trieb sie aber auch mit einem Boot auf einem größeren Bach als diesem hier, seltsame Musik in ihren Ohren klingend, ähnlich wie das Plätschern, aber mit menschlichen Stimmen vereinigt. Das könnte ihm passieren. Vielleicht hörte er ein Lied von Devendra Banhart, ja, das passte in dieser Situation, doch es könnte lediglich eine Stilisierung seinerseits sein. Er hatte keine Ahnung. Er fühlte sich wohl an diesem Ort. Merkwürdig, schließlich nutzte er nicht oft die Möglichkeit, hinaus in die Natur zu gehen, er vermied es geradezu. Stadtmensch war er und dazu stand er auch. Doch etwas hatte ihn aus seiner Wohnung getrieben, etwas hatte ihn auf seinem Fahrrad sitzend dazu gebracht, stets weiter zu fahren, hinaus aus der Stadt, hinein in den Wald. Bis er wusste, dass er angekommen war. Warum ihn genau diese Stelle, unweit von diesem Bach entfernt, anzog, das mochte er nicht sagen. Doch plötzlich war dieses Gefühl da: am Ziel angelangt zu sein. So ließ er sein Fahrrad liegen und ging los, um nach ungefähr fünf Minuten an diese Stelle zu kommen. Ja, er fühlte sich wohl, so wie in bestimmten anderen Situationen, wenn er eine Stunden neben einem Menschen tanzte, dessen Energie und positive Aura er spürte, oder wie wenn er einen ganzen Tag nur auf seinem Bett verbrachte, mit Büchern in seiner Hand, völlig ausgeglichen, weil er in Gedanken in fremde Welten reisen konnte. So wie diese junge Frau in diesem Moment. Er hörte eine merkwürdige traurige Musik in seinem Kopf, während er sie anschaute, ein Stück, das er in einem Film gehört hatte, fasziniert damals, weinend. Doch warum dieses Gefühl in diesem ehedem als schön empfundenen Moment? Lag beides so nahe beieinander? Oft glaubte er das. In diesem Moment allerdings glaubte er etwas anderes, es musste mit dieser Frau zu tun haben, die er vor sich sah. In diesem Film starb die Frau an einem Hirntumor. Diese Frau vor mir ist krank, dachte er nun. Und während er dies dachte, sah er sie nur noch verschwommen, er hörte das Piano in seinen Ohren und sah verschiedene gelbliche Farbtöne ineinander fließen, immer wieder neue Formen bildend, neue Farbkomplexe, neue Nuancen von Gelb, Ocker, Braun. Er sah einen großen Ball, der sich drehte, einen herbstlichen Baum darin, der seine Blätter verlor, er sah auf den Stamm, der plötzlich aussah, als hätte er ein Gesicht, ein weiches Gesicht, ein weibliches Gesicht, eines mit der Nase einer griechischen Göttin. Die Äste sahen plötzlich aus wie Haare, braune Haare, die es zum Himmel zog. Der Baum schwebte davon und vor seinen Augen wurde es dunkel...

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