Der Arzt (Part Two)

„Letztendlich können auch sie nichts gegen ihre unbewussten Abwehrmechanismen tun, sie sind einfach da, und flugs kann man einen Patienten nicht leiden und behandelt ihn dementsprechend.“
„Was soll denn das heißen?“ frage ich entrüstet. „Jeder Mensch sollte gleich vor Gericht und beim Arzt sein! Was sind denn das für Sitten?!“ Es drängen sich mir Gedanken auf, diesen Quacksalber endlich zu verlassen und einen neuen Arzt zu suchen.
„Sie sind ja herzig! Ein wahrer Idealist! Aber ich sage Ihnen etwas! Ein Arzt muss jeden gleich behandeln, jeden Patienten muss er nach bestem Wissen und Gewissen therapieren, ihn als gleichwertigen Menschen betrachten. Doch wir sind keine Maschinen und keine Halbgötter in Weiß, was wir angeblich von uns glauben; wir haben Gefühle, Vorurteile, Verdrängungsapparate, Ängste, negative Wellen usw. wie andere Menschen auch. So kann es durchaus passieren, dass man jemanden halbherzig behandelt, den man nicht mag, es allerdings überhaupt nicht merkt, und man glaubt fest daran, dass man das notwendige tut, doch man unterlässt es in Wahrheit. Sie werden in Ihrem Praktikum das gleiche bemerkt haben, Sie gehen mit Sicherheit nicht mit jedem Schüler gleich um, den Rabauken in der letzten Reihe würden Sie am liebsten zum Mond schießen, das süße Mädchen in der ersten Reihe, das sich ständig am Unterricht beteiligt, würden Sie am liebsten klonen...“
„Nun ja,“ sage ich, „ganz so einfach ist es nicht, zum Beispiel mag ich den Rabauken in der letzten Reihe oft am meisten, aber ich verstehe, was Sie mir sagen möchten, mir ist das auch schon aufgefallen.“
„Was ich Sie allerdings noch fragen wollte,“ setzt er an, „warum mögen Sie den Rabauken so gerne? Was assoziieren Sie mit ihm?“
„Genau das stört mich an den Psychologen!“ erwidere ich. „Genauso dämliche Fragen haben die mir auch gestellt.“
„Ich beginne mich über Sie zu wundern,“ meint er, „ich habe Sie als einen Menschen kennen gelernt, der sich viele Gedanken macht, manchmal sogar zu viele, Sie stellen alles und jeden in Frage, und wenn es um Sie selbst geht, begehen Sie wahrscheinlich den typischen Fehler, Sie weichen aus, suchen keine Antworten auf die offenkundigen Fragen. Haben Sie deswegen diese Probleme mit den Psychotherapeuten?“
Ich wehre mich: „Nein, so ist das überhaupt nicht! Ich mache mir genügend Gedanken über mich selbst, suche Antworten auf meine Stimmungen, auf meine Gefühlswankungen; warum sind sie da? Warum verschwinden sie nie? Warum muss ich so leiden? Aber manche Fragen führen einfach weg vom Thema.“
„Lügner!“ schreit er nun heraus: „Das ist nicht wahr, das glauben Sie nicht wirklich! Sie wissen es besser.“
„Hallo,“ sage ich, „flippen Sie nun aus?“
„Nein,“ erwidert er, „nein, überhaupt nicht. Sie interessieren mich, aber leider habe ich zu viele Patienten, die ich heute noch behandeln muss.“
„Wollen Sie mich etwa rausschmeißen?“ frage ich.
„Ich möchte nicht, doch ich werde es gleich tun. Allerdings nicht, ohne eine Abmachung mit Ihnen zu treffen: mir ist nämlich gerade die Idee gekommen, dass ich eine Art Schreibtherapie mit Ihnen versuchen könnte. Sie schreiben mir, woran ihre Depressionen, schlechten Phasen, Gefühlswankungen, oder wie Sie auch immer diese Beschwerden benennen möchten, Ihrer Meinung nach liegen könnten, was Ihnen in der Vergangenheit passiert ist, was Sie eventuell nicht verarbeitet haben, welche Krankheiten, Misserfolge, negativen Familienerlebnisse usw. Sie hatten. In welcher Form Sie das aufschreiben, ist mir völlig egal, machen Sie daraus Briefe an sich selbst, ein Tagebuch, Kurzgeschichten, einen Roman, machen Sie es chronologisch, durcheinander, nach Themen, wie Sie wollen.“
„Und dann?“ frage ich sofort nach. „Wollen Sie diese Ergüsse danach lesen?“
„Das ist der Sinn der Sache,“ sagt er in friedlichem Ton, „ich werde sie lesen und mit Ihnen darüber sprechen.“

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