schmerzwach schreibt: Einfach so?



Die Felder hinter dem Bauernhof seiner Tante Isolde erstrahlen im glitzernden Weiß des Schnees, der unberührt wie seine junge Seele ist. Bastian stapft seit einer halben Stunde darin, immer wieder fasziniert von den Spuren, die seine noch kleinen Füße erschaffen. Er versucht sich an geometrischen Figuren. Bisher hat er einen fast runden Kreis und ein Dreieck gezaubert. Dann wird er müde und beschließt, sich in den Schnee fallen zu lassen. Er ist neun Jahre alt. Er stellt einen Schneeengel dar. Er schaut in den Himmel, und träumt davon, dass ein anderer Junge die gleiche Position wie er einnimmt, Fuß an Fuß, und das klare wolkenlose Blau über sich anblickt. Er gibt diesem Jungen einen Namen: Hannes. So hieß sein Banknachbar in der Schule, der vor kurzer Zeit verstarb. 

Na, wo warst du, möchte seine Tante wissen. Spazieren, sagt er, ich liebe die klare Luft, wenn es so kalt ist. Isolde muss unwillkürlich lachen. Ihr Neffe, der kleine Sonnenschein, spricht wie ein kleiner Erwachsener. Es tut ihr gut, ihn um sich zu haben. Ihre Kinder wohnen in der großen Stadt, führen ihr eigenes Leben, ebenso wie ihre Schwester Barbara, Bastians Mutter, die ihn geschickt hat, um ihn ein wenig von Hannes´ Tod abzulenken. Es war für alle ein großer Schock, als sie davon erfuhren, dass sein bester Freund von einem Auto erfasst wurde und noch am Unfallort verstarb. Bastian ließ sich nichts anmerken. Er hatte lange unter Schock gestanden und hatte einfach nicht begreifen können, dass sein Freund für immer fortgegangen ist. Er war noch so jung und kannte den Tod nicht. Isolde hat mehr Zeit, sich um ihn zu kümmern, jetzt im Winter, da es nicht ganz so viel auf dem Hof zu tun gibt.

Wie jeden Abend sitzen sie auf Decken vor dem brennenden Kamin, immer abwechselnd die Augen auf das züngelnde Feuer und auf das Spielbrett gerichtet. Er hat es beim „Dame“ und „Mühle“ spielen zu wahrer Meisterschaft gebracht, Isolde kann nur staunen. Gelegentlich spielt Peter, ihr Mann, mit ihm Schach, und der ist irritiert, dass Bastian ihn regelmäßig an den Rand einer Niederlage bringt. So, jetzt geht’s aber ins Bett, junger Mann, sagt seine Tante um etwa neun am Abend. Er murrt ein wenig, überredet sie dann, noch eine halbe Stunde in einem Comic lesen zu dürfen. 

Er hat Einschlafschwierigkeiten. Mittlerweile hatte er sehr wohl begriffen, dass sein Freund niemals wieder mit ihm spielen wird. Dass er tot ist. Er ist ja schließlich kein kleines Kind mehr, das nichts versteht. Seine Angst ist, dass er, wenn er einschläft, nicht mehr aufwacht. Dann wäre er zwar am gleichen Ort wie der Hannes, aber dort möchte er nicht sein, denn er kann sich das nicht vorstellen, zumindest nicht so, wie die Erwachsenen ihm davon erzählen. Er glaubt nicht an einen Himmel mit Engeln und Süßigkeiten in Hülle und Fülle, wie sie ihm immer weismachen möchten. Eher sieht er eine dunkle Höhle vor sich, wenn er daran denkt. Dort lungern viele hässliche, bucklige, eklige Gestalten herum, die ihm etwas Böses wollen. Aber was passiert dann mit ihm? Was wird er machen? Meist schläft er dann ein, weil er so übermüdet ist und keine Kontrolle mehr über sich und seine Gedanken hat. In dieser Nacht begegnet ihm sein Freund im Traum.

Hannes taucht im Schwimmbecken, er macht Purzelbäume und einen Handstand. Ich wundere mich darüber, wie gut er die Luft anhalten kann. Ich versuche die Figuren nachzuahmen. Mein Freund hilft mir dabei. Hannes scheint mir etwas sagen zu wollen, seine Lippen bewegen sich. Ich verstehe nicht, zeige dann nach oben. Wir tauchen auf. 
„Du musst etwas für mich tun!“ 
„Was denn?“ 
„Das werde ich dir noch sagen. Merk dir nur, dass du eine Aufgabe hast.“  
„Okay.“

Er wacht verwirrt auf. Was sollte das bedeuten? Er hat Angst. Hannes sollte ihn nicht im Traum aufsuchen und schon gar nicht Aufgaben erteilen. Er ist nicht seine Lehrerin. Aber er kann es seiner Tante nicht sagen. Die nächste Stunde grübelt er darüber nach, was er wohl machen sollte, doch es fällt ihm nichts Sinnvolles ein. Darüber schläft er wieder ein. Den ganzen Tag erholt er sich nicht von diesem Traum. Er steht neben sich. Irritiert betrachtet ihn seine Tante, spricht ihn mehrmals darauf an: 
„Hast du was, Bastian?“ 
Keine Antwort. 
„Jetzt sag doch, Bub, ist dir nicht wohl?“ 

Doch er möchte nicht darüber reden. Vielleicht war das ein einmaliger Alptraum, denkt er  sich. Er sollte nicht darüber sprechen, sonst machen sie sich Sorgen. Isolde hat keine Vorstellung, wie vernünftig er tatsächlich schon ist. Sie spürt, dass etwas nicht stimmt, weiß jedoch nicht was. 

Hannes sitzt auf dem Sessel, der in seinem gegenwärtigen Schlafzimmer in der linken Ecke gleich neben dem Fenster steht. Bastian kann seinen ehemaligen Banknachbarn kaum sehen, so dunkel ist es, eher spürt er dessen Anwesenheit. Und hört ihn. 
„Hab keine Angst vor mir. Ich bin jetzt immer an deiner Seite und beschütze dich. Du hilfst mir, ich helfe dir. Wir sind Freunde fürs Leben. Okay?“
„Okay.“
„Gut. Ich gehe jetzt wieder.“ 
„Aber…“ 
„Merk dir: Ich bin immer an deiner Seite.“

Diesmal war es so, als wäre es in der Realität passiert, denkt Bastian. Er hat keine Angst. Sein Freund ist wieder zurück. Irgendwie. Es ist merkwürdig, aber es fühle sich gut an. Er ist an seiner Seite. Er weiß nicht, ob das gut ist. Aber es ist so. Es muss so sein. 

Am nächsten Tag schaut er aus dem Fenster: Der Schnee schmilzt. Er mag das nicht. Diesen Zwischenzustand. Unberührter Schnee ist schön. Aber matschiger Schnee nach Regen wie in der Stadt oder wegschmelzender Schnee, der nur noch in Teilen die Felder bedeckt, ist nicht schön. Es ist sein letzter Tag in den Ferien. Seine Mutter holt ihn am Nachmittag ab und zwei Tage später beginnt auch wieder die Schule. 

Er blickt aus dem Fenster. Je näher sie München kommen, desto frühlingshafter wird die Landschaft. Kurz vor ihrem Ziel liegt überhaupt kein Schnee mehr. Plötzlich sitzt Hannes neben ihm und flüstert ihm zu: 
„Bald geht es los. Du wirst schon sehen. Hab keine Angst, ich bin immer bei dir, Bastian.“
 „Was?“ 
„Vertrau mir, mein Freund.“

Barbara schaut ihn zärtlich, aber auch sorgenvoll an. Sie glaubt wohl, dass ihm sein Aufenthalt bei Tante Isolde nichts gebracht hat. Sie möchte wissen, ob alles klar ist. Er bejaht mit lauter Stimme und fragt unschuldig, warum nicht alles klar sein solle. 
„Schönes Wetter, oder, Bastian?“ 
„Ja, vor zwei Tagen bin ich noch im Schnee gestapft.“ 
„Ja, dick eingemummelt, nicht wahr?! Aber hier in München ist schon Frühling. Wir hatten gestern fünfzehn Grad.“ 
Sie hofft, dass ihn das dazu verleiten könnte, mit seinen anderen Klassenkameraden Fußball zu spielen. Sie denkt wohl, dass er nun neue Freunde braucht, die ihm Hannes ersetzen.

Im Park steht Hannes neben ihm und sie beobachten gemeinsam Maximilian, wie er die Frisbee-Scheibe fängt. 
„Siehst du den Hund da hinten? Schmeiß den Frisbee in seine Richtung. Frederik hat ja Angst vor Hunden und wird einen kleinen Schreck bekommen, wenn sie aus Versehen aufeinanderprallen.“ 
Er tut wie ihm geheißen. Und tatsächlich passiert das Vermutete. Frederik erschrickt sich vor dem Hund, der bellt wie verrückt, nimmt dann die Scheibe in den Mund und rennt davon. Der Junge weint und möchte sofort nach Hause. Hannes beglückwünscht Bastian zu seiner Tat.

Niemand hat ihn im Verdacht, dass er diese Situation absichtlich herbeigeführt hat. Deswegen wird er eher dafür gerühmt, dass ihm das ja nicht passieren könne, da er vor Hunden oder anderen Tieren keine Angst habe. Der Bastian war gerade zwei Wochen auf dem Bahnhof meiner Schwester, gibt seine Mutter vor Frederiks Mutter an. Sie kauft ihm voller Stolz auf seine Stärke einen Comic, den er vor dem Einschlafen lesen darf.

Abends liegt Hannes neben ihm im Bett. Sie schmökern gemeinsam im neuen Comic. 
„Wir müssen jetzt etwas wirklich Böses machen, bevor du meine Aufgabe erledigen kannst“, sagt Hannes unvermittelt. 
„Aber wieso?“ möchte Bastian wissen.
„Das ist wie ein Test. Ich muss wissen, ob du die Aufgabe wirklich erledigen kannst.“  
„Gut.“

Seine Mutter versteht die Veränderung nicht, die sich bei ihm innerhalb weniger Tage vollzogen hat. Er ist scheinbar viel fröhlicher, offener und gut gelaunter. Beim Abendbrot erzählt er sogar witzige Geschichten aus der Schule. Das letzte Mal war das vor  Hannes´ Tod so gewesen. Vielleicht hat er sich endlich eingekriegt, der Schock ist vorbei, die Normalität wieder eingekehrt, denkt sie sich.

Hannes hat ihm das automatische Schließsystem der Schule erklärt, das die Türen morgens erst um 6.45 Uhr öffnet. Nur von innen kann man manuell öffnen, aber nicht von außen. So ist seine einzige Aufgabe dafür zu sorgen, dass der Hausmeister nicht pünktlich ankommt. Das sollte mit ein paar kleinen Tricks nicht schwer sein. Es werden ihm ein paar Hindernisse in den Weg gelegt. Farbeimer, die auf ihn hinunterstürzen, wenn er aus der Türe tritt. Natürlich muss Bastian unbemerkt so früh morgens aus der Wohnung gelangen. Aber seine Mutter schläft fest. Und dann muss er aus dem kleinen Fenster im Bad heraus, es mit Klebeband zukleben, damit keiner sieht, dass es offen ist, und dann Glück haben beim Aufprall auf den Boden. Hannes sagt, dass alles ganz leicht ist. 

Beim Mittagstisch redet die Mutter mit ihm. 
„Das war ja ein aufregender Tag, Bastian, oder?“ 
„Ja“, sagt er. 
„Wie das nur passieren konnte. Dieser versoffene Hausmeister. Der hatte Ausreden. Wegen dieses Idioten konntet ihr stundenlang vor der Schule rumstehen.“ 
„Ja, aber es war ja nicht mehr so kalt.“ 
Er kann es sich kaum verkneifen loszulachen. Neben sich spürt er die Anwesenheit von Hannes. 
„Aber wieso warst du heute Morgen so früh wach und bist los? Als ich um sieben aufstand, warst du nicht mehr da.“ 
„Ach, ich konnte nicht schlafen. Dann war ich noch etwas spazieren, bevor ich in die Schule bin.“ 
„Naja, das frühe Aufstehen hast du zumindest nicht von mir.“

Sie sitzen auf seinem Bett und reden über den letzten Streich. 
„Ich wusste immer schon, dass ich mich auf dich verlassen kann. Du bist wirklich super. Du hast alles so gemacht, wie ich es dir erklärt habe.“ 
„Und es hat Spaß gemacht. Wahnsinnig viel Spaß.“ 
„Ja, einfach zum Lachen. Du hast den ganzen Schulbetrieb für Stunden lahmgelegt. Wer hätte gedacht, dass ein Neunjähriger das hinkriegt.“ 
Das waren alles Fingerübungen. Nun folgt die Aufgabe, die er zu erledigen hat. Das bedarf sehr viel Vorbereitung. Hannes erklärt ihm das Vorgehen ganz genau.

Den nächsten Nachmittag verbringt er in der Bibliothek, er sucht sich einen ruhigen Platz, an dem er ungestört über KFZ-Mechanik lesen und mit Hannes diskutieren kann.
„Bastian, verstehst du alles, was da steht?“ 
„Hör mal, Hannes, das ist ja nicht so schwer.“ 
„Also, ein Frederik könnte das nicht verstehen.“
„Frederik. Vergleich mich nicht mit dem!“ 
„Ich weiß, dass du ein Genie bist. Deswegen sind wir ja Freunde.“ 
„Ja.“
Bastian strahlt über das ganze Gesicht. 

Was hast du den ganzen Nachmittag gemacht, fragt seine Mutter. Er erzählt von seinem Besuch in der Stadtbücherei. Er flunkert ein bisschen, was seine Lektüre angeht, aber seine Mutter weiß genauso wenig wie die anderen, welcher Geist in ihm schlummert. Er hätte Peter durchaus schlagen können beim Schach, aber dann wäre der mürrisch geworden. Und außerdem hätte er Verdacht geschöpft. Bastian hätte nie gedacht, dass die Freundschaft zu Hannes durch dessen Tod noch fester wird. Jetzt konnte er jederzeit mit ihm reden, Tag und Nacht. Solange er alleine war zumindest.

Seine Mutter möchte wissen, was er die letzten Tage so getrieben habe. Er sei ja ständig außer Haus gewesen. Was sollte er nun sagen? Nicht auffallen. Also durfte er keinen Freund von der Schule vorschieben. Stadtbücherei? Sie würde ja dort nicht anrufen, oder? 
„Hör mal, Bastian, ist ja schön, dass du so gerne liest, und gerne in die Stadtbücherei gehst, aber dieser Frühling ist der schönste seit langem. Möchtest du nicht lieber rausgehen und mit deinen Freunden aus der Schule spielen?“  
„Morgen.“ 

Er lächelt. Seine Aufgabe hatte er erledigt. Heute Nachmittag war es so weit. Er wartet nur darauf, dass es bekannt wurde, und seine Mutter davon erzählt bekommen würde.

Am nächsten Tag ist es so weit. Als wir beim Abendessen sitzen, ruft Frederiks Mutter an. Seine Mutter kann nicht an sich halten, er hört es genau. 
„Was? Ich weiß, dass ich es nicht sagen sollte: Aber ich freue mich.“ 
Sie redet nun leiser, so dass er kaum noch etwas vernehmen kann. Doch manche Fetzen dringen zu ihm durch: … selbst Schuld… gerechte Strafe… gut so… tot… haben… alle… gewünscht… Als seine Mutter an den Tisch zurückkehrt, möchte sie nicht sagen, wer dran war. Wenn sie wüsste. Er hat sofort kapiert, worum es geht. Er war erfolgreich. All die Vorbereitungen, die Observationen, die Studien, die kleine KFZ-Ausbildung. Die Aufgabe war erledigt: Den Mörder seines Freundes hatte er zur Strecke gebracht.

Am nächsten Tag geht er in den Park mit den anderen Jungs. Sie spielen Fußball. Er beobachtet sie dabei. Dann lässt er sich auf die Decke fallen. Er macht den Hampelmann und blickt in den Himmel. Er spürt etwas an seinen Füßen. Hannes legt sich zu ihm.
„Ein wundervoller Tag, Bastian. Kein Wölkchen zu sehen.“ 
„Ja.“ 
„Ich danke dir. Du bist mein bester Freund. Du hast die Aufgabe erledigt, hast mich gerächt.“ 
„Gerne doch.“ 
„Wir sind ein Team.“ 
„Ja, das sind wir.“
Sie lachen beide laut.

Frederik läuft auf ihn zu. 
„Warum lachst du, Bastian?“ 
„Einfach so?“ 

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